Dieses Goethe-Zitat begegnete mir erstmals – wen wundert’s – im Vorspann einer alten Akte-X-Folge. Es ging dabei um die Geschichte des „Smoking Man“, des mysteriösen Bösewichts im Hintergrund, dem hier so ziemlich alle Missetaten im Dunstkreis der Geheimdienste in der jüngeren amerikanischen Geschichte angedichtet wurden, von einer Alien-Verschwörung bis hin zur Ermordung von John F. Kennedy und Martin Luther King. Vermutlich sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass er sich trotz allem im Recht wähnte, da er bislang zumindest nicht für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wurde.
Auf den ersten Blick erscheint die Aussage schlüssig, doch bei näherem Hinschauen und weiterem Nachdenken kamen mir doch Zweifel. Wir kennen sicher alle solche Situationen: Wir haben mit einem genialen Schachzug eine Situation für uns entschieden und waren dabei vielleicht nicht so fein in der Wahl der Mittel.
Vielleicht haben wir uns die Unwissenheit, Naivität oder gar Schwäche einer anderen Person zunutze gemacht oder haben jemanden bewusst missverstanden und auf eine Aussage festgenagelt, von der wir wussten, dass sie eigentlich anders gemeint war.
Natürlich freuen wir uns zunächst über den errungenen Sieg und versichern uns selbst mit überzeugenden Argumenten, dass wir ja genau richtig gehandelt haben, nachgerade gar nicht anders hätten handeln können.
Doch natürlich wissen wir auch, an welcher Stelle die Redlichkeit unserer Handlung zumindest in Frage gestellt werden könnte.
Nun gibt es ja die Auffassung, dass Menschen generell ihre Interessen durchzusetzen versuchen und dabei die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nutzen. Im Gegenzug ist jeder selbst dafür verantwortlich, sich gegen eine mögliche Übervorteilung durch andere zur Wehr zu setzen, alles nach der Devise homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
Dieses ursprünglich aus der römischen Komödie Asinaria stammende Zitat lautet allerdings im Original „Lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit“, was bedeutet, „Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.“ Hier wird also unterschieden, ob man es mit einer bekannten oder unbekannten Person zu tun hat.
Auch hierfür fallen uns sofort Beispiele ein: Du findest 50 € auf der Straße. Wahrscheinlich würdest du sie behalten und nicht abgeben, da du ja nicht weißt, wer sie verloren hat und wo überhaupt dieses Fundbüro ist und wann es geöffnet hat. Hättest du aber gesehen, wie das Geld deiner Nachbarin aus der Tasche gefallen ist, würdest du es wohl aufheben und ihr hinterher tragen oder ihr in den Briefkasten werfen.
Noch deutlicher wird der Unterschied, betrachtet man die Quelle, aus der wir diesen Ausspruch hauptsächlich kennen: von dem englischen Staatstheoretiker und Philosophen Thomas Hobbes, der die Bedeutung dieses Satzes auf das Verhältnis von Staaten zueinander und ihre kriegerischen Auseinandersetzungen bezog.
Wir können es vergleichen mit unserer Haltung gegenüber Institutionen. Kaum jemand hat Skrupel, bei der Steuererklärung ein wenig zu schummeln, mit dem Auto schneller zu fahren als vorgeschrieben oder im Parkverbot zu parken. Handelte es sich um eine Vereinbarung mit einem Freund, würden wir uns wohl nicht so verhalten.
Für mich bedeutet dies, dass jedenfalls die meisten Menschen sich eines mit unredlichen Mitteln errungen Sieges nur dann wirklich erfreuen können, wenn sie das Opfer ihres Handelns nicht vor Augen haben.
Lasst uns also in Zukunft immer genauer hinsehen, wer das wohl sein könnte.